Tunesien am Scheideweg
Noch ist der Weg Tunesien nicht klar. Gewalteskalationen wie Ende Februar könnten die eingeschlagene Route beeinträchtigen.
Donnerstag, den 31. März 2011

"Willkommen im freien Tunesien!" – als der Flugkapitän der Fluges TU 745 kurz nach dem Aufsetzen der Maschine auf dem Carthago Airport in Tunis diese Worte sagt, brandet spontaner Applaus in der Kabine auf. In dem nordafrikanischen Land sind in den letzten Wochen revolutionäre Vorgänge vonstatten gegangen, deren Funke weitere Umbrüche in der arabischen Welt zur Folge hatte. Mubarak weg, Gaddafi zumindest bei Redaktionsschluss schwer angeschlagen, Unruhen in Bahrein und im Jemen, Demonstrationen in Jordanien.
Dabei ist zumindest in Tunesien die Bewegung, die zum Sturz des verhassten Präsidenten Zine el Abidine Ben Ali und vor allem seiner Frau Leila führte, antireligiös. Ziel der Revolution vom Januar 2011 ist ein Tunesien mit Pressefreiheit, ohne Korruption, ohne Vetternwirtschaft, mehr Arbeitsplätze, freie Meinungsäußerung und freie Wahlen.
Keine Islamisierung
Wenig scheint derzeit für ein islamistisches Tunesien zu sprechen, da selbst die Verantwortlichen tunesischen Islamisten nicht von einem Staat dieser Ausprägung sprechen. Rached Ghannouchi, Präsident der an-Nahdha Bewegung, will keinen Staat islamischer Prägung. Bei al-Jazeera sprach er davon, dass er eine konventionelle Demokratie, in der alle politische Parteien und Institutionen vertreten wären, für das sinnvollste Lösung für Tunesien halte. Auf die Frage, welche Rolle er selber spielen wolle, sagte Ghannouchi, er habe keine politischen Ziele, er sei nicht der "Chomeini von Tunesien", sondern wolle nur, dass das Land den Schritt zur Demokratisierung schaffen würde.
Probleme liegen tief
Vielschichtig sind die Probleme des Landes in der Tat: "Hauptsache Ben Ali ist weg und wir haben Demokratien", hört man vor allem die Älteren sagen, während den jungen Menschen der Transformationsprozess, den das Land jetzt durchmachen muss, zu langsam dauert. Bis Ende Februar war es eine Zeitlang ruhig und die Menschen schienen ihre neuen politischen Freiheiten zu genießen. Am Wochenende vom 26. / 27. Februar 2011 kippte die Lage und neue Gewalt zog auf die Avenue Habib Bourguiba, die politisch wichtigste Straße von Tunis, ein. Hier liegen die wesentlichen Ministerien, wie etwa das von der Armee abgesperrte Innenministerium, große Hotels, das Theater, die französische Botschaft und am Ende der Avenue die Kasbah, die Altstadt von Tunis. Auf dieser Straße fanden während der Revolution im Januar die entscheidenen Kundgebungen statt.
Unzufriedenheit bei den Jungen
Von vielen jungen Menschen hörte man schon eine Woche zuvor, dass ihnen alles zu lange dauert. Die Wahlen seien für den Juli viel zu spät angesetzt worden, die Kommission, die mit der politischen Aufarbeitung des Ben Ali Clans zusammengetreten ist, arbeite zu zögerlich. Im Grunde sei der alte Clan immer noch an der Macht. Forderungen nach dem Rücktritt der Regierung unter Mohamed Ghannouchi, der schon unter Ben Ali im Amt war, machen die Runde. Der Ruf nach einer neuen Verfassung und sofortige Parlamentswahlen waren es auch, die das letzte Februarwochenende bestimmten.
Viele Gerüchte
Zeitgleich laufen viele Gerüchte durch die Stadt. Angeblich abgeschaltete Facebookseiten oder dass die geflüchtete Leila Ben Ali den Flüchtlingsstrom nach Lampedusa organisiert hätte, um Tunesien international zu destabilisieren. Hinter den Gewaltausbrüchen der Demonstranten könnten ebenfalls ganz andere Interessen stehen, quasi agents provocateurs, die ein hartes Durchgreifen der Armee rechtfertigen ließen und am Ende eine noch viel schlimmere Militärdiktatur in Tunesien ermöglichen würden.
Zwischenzeit
Noch eine Woche zuvor bot die Avenue Habib Bourguiba ein Spiegelbild einer anderen Situation. Die Cafés und Geschäfte hatten geöffnet, diskutierende Männer saßen dort und genossen ihren Kaffee. Ein Karikaturist stellte Zeichnungen des gierigen Ben Ali Clans aus, die Stimmung wirkte gelöst. Während man zu Ben Alis Zeiten überwiegend auf ernste Gesichter stieß, strahlte die Stadt etwas Heiteres aus. Menschen besprachen in Grüppchen die neuesten politischen Entwicklungen auf der Straße – wenige Wochen zuvor hätte dies die Geheimpolizei noch auf den Plan gebracht. Auf der anderen Seite der Avenue, etwa vor dem Innenministerium, hatten Armeetruppen mit Stacheldraht und Panzerwagen die Gebäude gesichert, ein Hubschrauber kreiste ständig in der Luft um entsprechende Präsenz zu zeigen, dennoch gab die Armeepräsenz eher ein Bild der Sicherheit, denn der Bedrohung. Wildfremde Menschen luden einen zum Tee ein, wollten mit einem über die aktuelle politische Situation diskutieren. "Du bist Journalist? Dann schreib, dass es uns in erster Linie um Demokratie geht, nicht ums Geld!" – dies hörte man immer wieder.
Sozialer Dialog und wirtschaftliche Krise
Vor dem Tourismusministerium, an der Kreuzung der Avenue Habib Bourguiba mit der Avenue Mohammed V, nur wenige hundert Meter von der französischen Botschaft entfernt, eine weitere Demonstration. Hier ging es nicht um Politik, sondern um Geld. Die Demonstranten sind Angestellte eines Hotels, deren Besitzer mangels Gästen das Haus zugemacht hat. Nun sitzen 350 Angestellte und Familien auf der Straße. Eine Zeit lang haben sie vor ihrem Hotel demonstriert, dann sind sie vors zuständige Ministerium gezogen. Der tunesische Tourismusminister sucht das Gespräch mit den Demonstranten, denn er weiß wie prekär die Lage ist. Rund 350.000 Menschen arbeiten direkt in der Tourismusindustrie des kleinen nordafrikanischen Landes, insgesamt hängen rund eine Million Arbeitsplätze unter anderem in den Bereichen Kunsthandwerk und tourismusnahe Dienstleistungen vom Tourismus ab. Involviert sind damit zusammen mit den dazugehörigen Familienmitgliedern etwa 40 Prozent der tunesischen Gesamtbevölkerung. Der Tourismus direkt trägt 6,5 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei.
Rückgrat Tourismus
Im Gebäude versucht Minister Mehdi Houas, der 1959 als Sohn eines Tunesiers in Marseille geboren wurde und heute als Unternehmer in Frankreich erfolgreich tätig ist, für Tunesien zu werben.
Dies ist auch dringend notwendig: "Wenn die Touristen nicht zurückkehren, gehen 15.000 Jobs pro Monat verloren," so der Minister. Dabei seien in Tunesien schon jetzt allein 500.000 Akademiker arbeitslos. Und dies vor dem Hintergrund einer Revolution. Die Erwartungshaltung der Menschen ist enorm, "soziale Verbesserungen müssen schnell kommen" hört man allenthalben auf der Straße. Das weiß auch Mehdi Houas, und so schlägt er kräftig auf die Werbetrommel. Dabei ist er authentisch, beschönigt nichts, vor allem nicht die "katastrophale Kommunikationspolitik" der tunesischen Regierung nach den Anschlägen auf die die Al-Ghriba-Synagoge auf Djerba, bei denen 21 Touristen im April 2002, darunter 14 aus Deutschland, starben. Lange Zeit hatte die tunesische Regierung dies als Unfall dargestellt, bis sich Al Kaida zu dem Terrorakt bekannte.
Umfangreiche Pläne
Für den Tourismus hat sich der Minister viel vorgenommen, die nächtliche Ausgangssperre war aufgehoben worden, ebenso die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes obsolet.
Houas lobt währenddessen den deutschen Außenminister, der demonstrativ nach Tunesien gereist war. Dennoch werde der Ausnahmezustand noch eine Weile fortbestehen, damit man auf die Armee als Ordnungsfaktor zurückgreifen könne, dies habe, so der Minister, verfassungsrechtliche Gründe. Für die Touristen bestehe aber kein Grund zur Sorge. "Die vornehmliche Aufgabe ist die Wiederherstellung der Sicherheit, die jetzt gegeben ist."
Das Land will Minister Houas auch neuen Zielgruppen erschließen, vor allem denen, die an Kultur interessiert sind. Er habe, erzählt er, sofort die Zusammenarbeit mit seinem Kollegen aus der Kultur gesucht, um Synergien zu suchen und Produkte zu entwickeln.
Mafiöse Strukturen bei der RCD
Angesprochen auf die Stärke der ehemaligen Regierungspartei RCD und deren Mitglieder sowie die Durchsetzung im Verwaltungsapparat, war die Antwort des Ministers eindeutig. "Wir haben eine durchaus tüchtige Verwaltung. Dennoch haben wir im Ben Ali Clan eindeutige mafiöse Strukturen vorgefunden, die unser Land schwer in Mitleidenschaft gezogen haben. Wer eine deutliche Nähe zum alten Regime auch in seinem Ministerium habe, müsse mit klaren Konsequenzen rechnen. Und hier macht sich dann die Herkunft des Ministers aus Frankreich für die neue tunesische Demokratie bezahlbar. "Ich habe damit auch keine Probleme, diese Personen zu entlassen, ich kenne die Leute nicht persönlich", erläuterte Houas.
Der Minister räumt ein, dass die Tunesier noch viel lernen müssten, "zum Beispiel die Demonstranten da unten, die für ihre Arbeitsplätze kämpfen. Der soziale Dialog zwischen den Parteien muss erst einmal eingeübt werden," sagt der Unternehmer, der aus seinem französischen Alltag Streiks wie seine Westentasche kennt. "Ich habe einen 18- bis 20-Stundentag, und zum Essen komme ich auch kaum", lächelt Houas und zieht quasi als Demonstration unter einem Beistelltisch seines Schreibtisches ein trockenes Sandwich hervor.
Houas zeigt sich zuversichtlich, dass die Touristen im Frühjahr wiederkommen würden, aus Deutschland hält er rund eine Million Touristen für machbar, im vergangenen Jahr waren es 458.000. In den nächsten Tagen werde er die Kontakte zu den Reiseveranstaltern verstärken und die führenden Repräsentanten von der verbesserten Sicherheitslage überzeugen.
Weg weiter offen
Bei allem Optimismus, den der Minister, der lediglich als "Interimsmanager" im Amt ist, versprühte, können die neuen Unruhen in Tunis, aber auch die Entwicklungen in Libyen, in Algerien und anderen Teilen der arabischen Welt, durchaus noch einen Strich durch die tunesische Rechnung machen. Bleibt zu hoffen, dass die Urlauber die gesamte arabische Welt nicht in einen Topf werfen, und dem gesamten südlichen Mittelmeerraum den Rücken kehren. Sollte dies geschehen, werden es die Verantwortlichen in Tunis ungleich schwerer haben, die sozialen Reformen schnell umsetzen zu können. Die vermeintliche Ruhe und die ausgelassene Aufbruchstimmung, die noch Mitte Februar in der tunesischen Hauptstadt zu spüren war, ist inzwischen gekippt. Der tunesische Weg scheint wieder offen zu sein.
von Frank Tetzel
Fotos: Hafsa Khawaja